Berlin
[Berliner] Telegramm Nr. 3
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Eigentlich sollte man froh sein an dieser Stelle. Das Schuljahr ist abgeschlossen, ich habe sie alle durchgebracht. Nicht durch Nettigkeiten. Niemals. Harte Arbeit. Und ich habe ab sofort eine feste Stelle. Nicht schlecht bezahlt.
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Das Feedback meiner Schüler: „Renke! Wie immer. Ein bißchen durchgeknallt. Zweimal im Jahr launisch. Aber: Drei Jahre Deutsch, das letzte mit Dir. Und richtig weitergekommen nur in den letzten 12 Monaten.“
Man dankt.
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Unschön und am letzten Tag für richtig Verwirrung gesorgt: Eine Kollegin an meiner Schule wurde „gegangen“. Der Chef für die Grundschulen hat das Knall auf Fall beschlossen. Die Gründe sind undurchsichtig, nach meiner Meinung sogar nur vorgeschoben. Aber genaueres weiß man nicht. Dennoch, meinerseits wieder die Einsicht: Schwedische Gewerkschaften, so es denn nicht gleich die der Piloten oder Flugbegleiter sind, haben keine Zähne. Man könne nichts machen. Auch wenn die Umstände dubios sind. Man könne vielleicht die Abfindung noch etwas besser gestalten. Für das Kollegium scheint dieses Ereignis einen Bruch herbeizuführen. Das Personalfest am Abend des letzten Tages habe ich mir gespart. Mein Hirn war an dem Tag auf Grund einer hartnäckigen Erkältung eh schon ausgelaugt, das Konzept „Friede, Freude, Eierkuchen“ hätte nicht gewirkt. Zudem muß ich mal wieder das Arbeitsteam wechseln, was recht unschön ist, braucht man doch mindestens ein Jahr (nach meinen Erfahrungen), um in einem solchen Team richtig anzukommen.
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Das Berliner Wetter ist unschön und kann dem schwedischen in Sachen Bibbern und Auswringen der Klamotten durchaus Konkurrenz machen. Daher habe ich es mir auch nicht nehmen lassen, die ersten Tage in Berlin einfach nur faul auf der Couch zu liegen und apathisch den Fernseher anzustarren. Aber da passiert ja auch nicht viel. Obacht, Reklame ist immer noch spannend. Coral hat da einen Clip für Buntwäsche und Feines, als Mittel der Propagandaschlacht hüpfen Frauen vor und zurück und sind entzückt, wie leuchtend doch die Wäschestücke nach dem Waschgang mit jenem Produkt sind. Schade, tiefstes Mittelalter. Männer jagen im Wald das Wild und die Frauen waschen anschließend das Blut aus den Klamotten. (Das ließe sich übrigens auch bei Reklame für Spültabs, Geschirrspülmittel, Haushaltsreiniger, Fleckenentferner, … usw. fortsetzen.)
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Die Reisepläne für Rußland nehmen Gestalt an. Ich werde am dritten Juli zunächst von 8 – 16 Uhr meine erste Gruppe Touristen dieser Saison durch Stockholm führen, um 17 Uhr völlig planlos nach Hause rasen und den Anzug gegen eine Reisetasche austauschen, gegen Mitternacht in St. Petersburg zum Umsteigen aufschlagen und um halb vier Uhr morgens des nächsten Tages in Archangelsk eintreffen. Hier werde ich intravenös um Kaffee bitten und gegen neuen Uhr die Reise auf die >>> Solowezki-Inseln fortsetzen. Natürlich mit einer lokalen Fluggesellschaft. Ich befürchte im Moment das Schlimmste. Es böte sich also an, den Kaffee zusammen mit Valium intravenös einzunehmen. Aber was tut man nicht alles als Tourist.
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Und nein, ich habe den Feierlichkeiten zur Hochzeit von Prinz Carl Philip von Schweden nicht beigewohnt. Ganz im Gegenteil, ich habe mich in meiner Behausung eingeschlossen, die Jalousien runtergezogen und die Ohren auf Durchzug gestellt. Und ich war wohl nicht der Einzige, die schwedische Bevölkerung ist zu Teilen des Königshauses überdrüssig. Aber meine Einstellung ändert sich vielleicht, wenn ich dann voraussichtlich im Dezember den schwedischen Paß in meiner Hand halte … Wunder geschehen immer wieder!
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Ich habe Urlaub!
[Berliner] Telegramm Nr. 2
Ich habe am Mittwoch den freien Tag in Berlin genutzt, um noch ein bißchen zu arbeiten, online. Der Technik sei Dank, ich kann die Prüfungen meiner Schützlinge auch im Netz überprüfen. Und über den fächereigenen Blog die Hausaufgaben erklären.
Dabei läuft der Fernseher, zur Berieselung. Zum Verdrängen der Stille im Raume, hilfsweise des Lärmes von der Frankfurter Allee.
An diesen Arbeitsstunden knabbere ich bis heute, es läuft Kino im Kopf, Reflexionen. Ich habe doch nur den Einschaltknopf gedrückt, keinen Sender gewählt.
Die Wahl des Senders, sie war mir nicht bewußt. Aber es war das Böse – RTL II. Es schüttelt mich. Es hallen Fetzen im Hirne, auditives Lernen? Oder Abgesang auf die deutsche Fernsehkultur? Wo war eigentlich Arte?
Das Programm, recherchiert:
- Frauentausch, Folge 141 (die Katze entleert sich zur Gänze auf dem Teppich, irgendeine Tauschmami will nicht aufwischen, die andere Tauschmutti gibt die Ratgeberin in Sachen Sex, irgendwie sind alle Penner und Schweine, Frauenkampf auf halber Stecke, ernste Gespräche nach der Rückkehr, die Tauschmami wird in die Hölle gewünscht)
- Family Stories, Folge 79 (vorgeschriebene Doku?, Kampfhunde, Stasi, der Herd wurde nicht gekauft, der Ossi als Ungeheuer, der Wessi als Ungeheuer, das Leben ist Mist, Männer an die Werkbank, Frauen an den Herd, Schreie, Verzweiflung, Grammtikabfahrt, fantastische Eheaussichten)
- Kaffeepause
- Hilf mir! Jung, pleite, verzweifelt …, Folge 129 (Hart-IV [sic!], Medikamente, Sparbücher, Dialogsalat, Schlafen – neudeutsch auch: Fremdschlafen, Hysterie, Brechreiz, große Liebe, Familientragödie)
- Hilf mir! Jung, pleite, verzweifelt …, Folge 38 (Adoption, die Grammatik landet wieder auf dem Misthaufen, der Duktus sowieso, Diplom-Psychologin Ina Hullmann hat keinen Fahrplan, alles schreit und heult, Schubladenöffnen, Schubladenschüffeln, roter Lippenstift)
Verdrängt. Ausgerechnet die Körperteile und das Perfekt waren es, die korrigiert wurden, Prüfungen.
Wie reagierte das Hirn, wäre man nicht abgelenkt? Wenn super süßes Kätzchen kackt und kotzt und Tauschmutti streikt? Wenn der Ossi mit der Stasimanier Hundehalter über den Kamm zieht, natürlich leicht sächsisch angehaucht? Wenn Frauen Nervenzusammenbrüche kriegen, weil der elendige, faule Sack von Ehemann keinen neuen Herd beschafft? Wenn eine Diplom-Psychologin apathisch in die Kamera guckt, die Augen rollend, der Zuschauer Visionen kriegend!?!
Ich würde mich derzeitig gerne einbuddeln. Wo war Arte?
Der Kick vor meinem Rückflug, in der Vorschau: Traumfrau gesucht – Hilfe, Walther wird liebestoll!
Ich bitte doch darum, das erspart mir mein Bier im Flieger!
Friede, Freude, tandläkare [resp. Schock].
Manchmal, nur manchmal, werde ich das Gefühl nicht los, das Schicksal will es nicht so mit mir. Oder ist gar gegen mich. Nun meine ich das nicht unbedingt, wenn ich auf Reisen bin. Sicher, am Sonntagmorgen in Berlin beim Frühstück im >>> Kuchenrausch, machte sich ein Zahn bemerkbar. Sachte, dennoch ziehend, zuweilen pulsierend. Auf einer Skala von 1 bis 10, wobei eins kein Schmerz und zehn völliger Krawall im Gesicht darstellt, war ich bei einer sachten Zwei. Und bei genauerer Untersuchung des Schlachtfeldes, äußerlich, war auch eine kleine Wölbung der Wange zu erkennen, allerdings nur bei genauester Inspektion. Es gab Hoffnung. Und diese lebte auch noch den ganzen Abend hindurch, denn ohne besondere Vorkommnisse, weder beim Flug noch beim Zahn, landete ich in Stockholm, und war eigentlich frohen Mutes, am Montag in der Schule aufzuschlagen.
In Frankfurt war noch alles in Ordnung. SAS-Flieger nach Stockholm. >>> Instagram
Im Laufe der Nacht wurde aus der unauffälligen Wölbung an der Wange ein ausgesprochen stattlich anzusehender Hügel in Querlage, die obengenannte Schmerzskala bewegte sich auf die Zehn zu. Der Blick in den Spiegel um 5.30 Uhr – es ist immer wieder erstaunlich, wie elastisch doch die menschliche Haut ist – in Zusammenarbeit mit dem Schmerzzentrum im Gehirn ließ meine Träume platzen, an einen Dienst in der Schule war nicht mehr zu denken. Fies. Ich hatte irgendwie anders geplant; erst der Dienst und dann der Zahnarzt (Freude über Freude, bei uns auch tandläkare genannt).
Und so begab es sich, daß ich dieses Schuljahr das erste mal fehlte. Die dicke Wange hätte mir sicher keine Probleme bereitet, damit wäre ich wahrscheinlich noch dreimal vor meine Klassen getreten. Aber wenn das Pochen und Ziehen so langsam das Gesicht hochkriecht, schon fast sadistisch genüßlich, um dann schlußendlich am Ohr anzukommen, natürlich die restlichen Gesichtspartien nicht aussparend, dann muß auch ich die Segel streichen. Spontan einen „akuten“ Termin gemacht, am selben Tag bekommen, hingegangen, ausgehalten, die arme Zahnärztin malträtiert, alte Füllung raus, ein Huch (die Füllung war wohl nicht mehr ganz dicht), Wurzelschaber rein, hoch und runter und gedreht und gebogen, meinerseits hoch und runter auf dem Stuhl ebenso, Füllung rauf, nächster Termin in zwei Wochen.
Den Dienstag auch noch zu Hause verbracht. Die Wange sieht inzwischen nur noch nach einem Hügelchen in Querlage aus, wir sind auf dem Weg. Mittwoch, heute, ist eh frei, der zweite Schock wird mit der Lohnabrechnung ins Haus flattern. Der erste Krankheitstag in Schweden ist ein Karenztag ohne Lohn, der zweite dann, Freude über Freude, mit 80 Prozent.
Der erste und immer noch tiefsitzende Schock allerdings traf mich nach der Behandlung. Als quasi die Rechnung kam. Einmal akute Wurzelbehandlung: 1.295,- SEK, was bei heutigem Wechselkurs 139,85 € entspricht. Und die provisorische Füllung ist nicht aus Edelmetall oder Meißner Porzellan.
Nach zehn Jahren in Schweden bin ich noch immer nicht so ganz im Gesundheitssystem angekommen. Sicher, die eine oder andere Untersuchung verlangt Gebühren, 150 SEK beim Hausarzt und so um die 700 SEK für eine komplette Untersuchung beim Zahnarzt. Daß aber die Behandlung dann doch so deutlich tiefe Einschläge auf dem Konto hinterläßt, erzeugt einfach nur Freude über Freude.
Ich muß nochmal den sogenannten Höchstsatz untersuchen, ab eine bestimmten Summe soll der Staat mit 50 Prozent einspringen. Aber solange ich dahin nicht vorgedrungen bin, habe ich mir selbst ein Flugbuchungsverbot auferlegt. Was natürlich nicht Freude bereitet. So insgeheim ist es mir aber den Einsatz wert, wenn ich den Wurzelkrawall loswerde …
Freude über Freude!