[Berliner] Telegramm Nr. 1

Aufräumen – im Kopf. Die Arbeit ruhen lassen. Abschalten. Planen. Und vielleicht ein bißchen sortieren.

Warum fliegt ein Renke so oft nach Berlin? Genau deswegen. Jeden Montagmorgen dieselbe Geschichte in einem durchschnittlichen Lehrerzimmer, nicht nur in Schweden. Wie geht’s? Wie war das Wochenende? Schön, gewiß, der Sonnabend zumindest. Der Sonntag ist eine ganz andere Geschichte. Prüfungen korrigiert. Stunden vorbereitet. Gearbeitet. Den Lehrer hervorgekehrt.

Am Montag werde ich, wie so oft, sagen: bedauerlich. Allerdings nicht geschehen bei mir. Sicher, im Flieger noch die eine oder andere Prüfung korrigiert, das macht sich in Luftlöchern wie am Freitag besonders gut! Man will das Häkchen für „richtig“ setzen, mit seinem Füller, und rums, es wird etwas unansehnliches. Die Füllerfeder protestiert. Egal, ich habe ja eine gute Begründung, einen Grund, eine Argumentationsgrundlage, sollten die Schüler meine Fähigkeiten in Bezug auf die Korrektur einer Prüfung bezweifeln.

Und dann kann ich meinen Kollegen vorschwärmen. Den Freitag faul auf dem Sofa gelegen. Mit dem Kalle zwei Filme analysiert. Wobei wir hier am Montag eine Zäsur vornehmen werden müssen. Film Nummer eins war ganz nett, dennoch platt. >>> Gayby besticht nicht unbedingt durch einen fantastischen Inhalt: eine von Männern gemiedene (nicht unattraktive) Frau will mit einem alternden Schwulen ein Baby kriegen, ohne künstliche Befruchtung, ohne Technik, ohne Pipette – ganz traditionell. Die Schauspieler mögen ein Schmaus sein, das kommt immer auf die Perspektive an. Aber irgendwie kommt die Botschaft dröge daher, ganz lahm, ausgelutscht. Madonna und Rupert Everett haben das in >>> Ein Freund zum Verlieben wesentlich besser hinbekommen. Angucken, fein – könnte man nach ein paar Zentilitern Bier machen. Für einen Abend genehmigt. Die Wortkonstruktion aus Gay und Baby, also Gayby, sagt eigentlich alles. BILD-Niveau.

Film Nummer zwei war da etwas anders. >>> Xenia setzt zwar auch, wie schon der erstere Film, auf Klischees: blondes etwas, behaarte Ungeheuer, Diven und Träume auf Überseefähren, hier und da sogar ein bißchen Sex, angedeutet jugendfrei. In Griechenland, das zwei Albaner, Brüder, ihr Zuhause nennen. Der eine die typische, wie der Bruder es formuliert, Schwuchtel. Der andere ganz dem Machodasein verschrien, obschon er an einem Gesangswettbewerb teilnimmt. Und beide auf der Suche nach dem griechischen Vater, der die albanische Mutter mit den Jungs zurückgelassen hat. Der eine jagt imaginären weißen Kaninchen hinterher. Was beim Gucken Horror auslöst, Kuscheltiere! Fleischgeworden. Im Kopf. Vernichtet, der Regisseur läßt Gnade walten, der ältere Bruder zerfleddert es im Wald. Der andere, der ältere, stur und zielorientiert, dennoch zuweilen Kind, auf seinen jüngeren Bruder einwirkend. Was mich im Moment fasziniert und vielleicht gegen die Linie des Regisseurs geht, meine Interpretation, ist die Weisheit, daß Blut dicker als Wasser ist. Wer sich hierzu eine Meinung bilden will, der muß den Film gucken, so wie Kalle und ich das getan haben – auf unterschiedlichen Ebenen. Das kann ich dann auf diesen mit ihm diskutieren.

Das allerdings muß ich nicht mit meinen Kollegen tun. Es wird wohl reichen, daß ich berichten kann, daß ich ein tolles verlängertes Wochenende hatte, ganz ohne Arbeit und Gedanken an die Schule. Wenn alles gutgeht, werde ich bis Sonntag noch zwei mal Frühstücken gehen, Paßbilder für mein Visum in Sachen Rußlandreise anfertigen lassen, vielleicht noch hier und da einige Freunde treffen.

Säße ich jetzt in Stockholm, würde ich arbeiten. Abartiger Gedanke!

Abschluss (Telegramm)

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Das Schuljahr ist abgeschlossen, die Noten waren schon vorige Woche fertig und die Schüler drehten genauso durch wie die werten Lehrer. Es herrschte Panik, Chaos und Verzweifelung ob der letzten Tage, die da noch kommen würden. Allerdings habe ich das Durcheinander umschifft – es gab bei mir in den letzten Stunden einfach deutsche Weihnachtsmusik (das Singen habe ich allerdings verwehrt), Dominosteine und Stollen. Für die Zukunft: keine Dominosteine mehr – die kommen einfach nicht an. Und natürlich wurden die Schüler in solch beschwingten Momenten, bei Kerzenschein und Schunkelmusik, neugierig. Ob ich denn bei Air-Berlin arbeiten würde (ein Foto eines Air-Berlin-Winglet schmückt meine Handytasche und mein Desktop-Hintergrund auf dem Laptop zeigt stolz eine Boeing 737-800 der Air-Berlin), warum ich keine Kinder hätte (mit 35 wäre es schließlich Zeit), ob sie die Schlimmsten wären (weil ich immer so streng mit ihnen wäre), ob ich denn überhaupt noch Lust auf Schule verspürte (andere Kollegen meinten wohl zu ihnen, sie seien es müde, bei ihnen zu unterrichten)?

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Ich habe das erste Mal in meinem Leben ein Pfefferkuchenhaus gebaut – unfreiwillig. Denn ich wurde in den letzten Tagen als Vertretungslehrer in Hauswirstschaftskunde eingesetzt. Ich bin baß erstaunt, daß unsere Küchen nicht abgebrannt sind … Denn wer hört schon auf den Lehrer, der von wenig Hitze beim Schmelzen des Zuckers in den Pfanne spricht! Das Stichwort Abwaschen erfährt in diesem Zusammenhang ganz neue Dimensionen.

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Stockholm hatte in diesem Winter bisher erst EINMAL Schnee. Es ist weiterhin verwirrend, soweit nördlich zu wohnen und trotzdem im Dezember den Trieben an den Bäumen beim Sprießen zugucken zu müssen.

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Aus Sicherheitsgründen habe ich meine Badehose nach Berlin mitgenommen. Die kann ich dann am Heiligabend bei 10°C plus vor dem Tannenbaume zur Schau stellen. Eventuell werde ich auch ein Liedchen anstimmen.

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Neujahr wird in weiter Ferne verbracht, so ganz in Ruhe und ohne großes Spektaktel.

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Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr sei gewünscht!
Wie immer: Im neuen Jahr wird alles viel schöner, bunter und besser!

Värmebölja, oder:
[Stockholmer] Telegramm 16

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Am Mittwoch verkündete ich vollmundig der Berliner Welt, wie schön es doch wäre, in die nördlichen Gefilde zurückkehren zu können, die Hitze in der Haupstadt wäre einfach nichts für mein Hirn. Ich würde den Boden küssen und in die Ostsee hüpfen, sobald ich schwedischen Boden erreicht hätte. Nun denn, beides hätte ich am Donnerstag dann auch getan, allerdings in einer leicht abgewandelten Form, eher unfreiwillig und dabei völlig desorientiert. Der schwedische Wetterdienst sah sich nämlich Mitte der Woche gezwungen, erstmals in seiner langjährigen Geschichte eine Wetterwarnung auf Grund einer anhaltenden Wärmebelastung herauszugeben, da die Temperaturen an mehr als drei Tagen in Folge über die Marke von 30°C klettern könnten, was dann auch eintrat, inzwischen erreichen wir Tag vier des markanten Wetterereignisses. Und dann spricht man hier nur noch von der värmebölja, einer Hitzewelle, die nun bis Sonntag vor allem Mittelschweden fest im Würgegriff hat. Da der Sonnenstand in unseren Gefilden in den Sommermonaten am höchsten ist und damit der lebensspendende Stern unseres Sonnensystems sozudagen direkt auf uns strahlt, noch ein bißchen direkter und intensiver als in Berlin, ist dieses Wetter unheimlich gut geeignet, um Touristenführer zu spielen: Stundenlange Spaziergänge in der Altstadt von Stockholm, erfrischend langes Anstehen am Vasa-Museum ohne Schatten und immer wieder raus aus dem lebensrettenden Bus, um Fotos machen zu lassen. Und wie im Lottospiel war es völlig offen, wer denn nun als erstes den Boden küssen oder aber sich ekstatisch die Kleider vom Leibe reißen und in die Ostsee springen würde; der Touristenführer oder eines seiner Schäfchen?

Ich habe sie alle wieder heil zu ihrem Kreuzfahrtschiff zurück gebracht, um dann selbst mit den letzten Reserven im Körper der Sonne zu entkommen, ich bin hierauf erstmal ausgiebig U-Bahn gefahren. Und etwas neidisch guckt einer meiner nun nach Berlin, wo es im Moment angenehme 20°C sind, wir springen um halb zwölf schon wieder über die Marke von 28°C, und es gibt nur eine Richtung – hoch hinaus.

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Die zehn Tage in Berlin waren lehrreich, wenn auch warm. Ich kann noch schwimmen, ein Wochenende bei Ina und den Kindern draußen in Wandlitz hat mich dazu verleitet, mal wieder ins kühle Naß zu springen. Auch eine kurze Hose wurde käuflich erworben, die erste seit dem ich die Kinderlederhose im Alter von 12 Jahren feierlich in die Rente verabschiedet habe. Und ein ganz großer Entwicklungsschritt (da man ja unter sich war, ich würde so nie in die Zivilisation zurückkommen): ein ganzes Wochenende nur in Badelatschen! Auch diese käuflich erworben, sie wurde einfach der kurzen Hose beigelegt.

Auch durfte ich endlich mal Leipzig genießen, zusammen mit dem Kalle, ein spontaner Trip nach Mitteldeutschland, der eigentlich recht günstig war, dennoch die Kreditkarte an den Rand des Wahnsinns gebracht hat, es war leider Sommerschlussverkauf. Auf der anderen Seite immer wieder die Feststellung, daß ich wesentlich billiger einkaufe, wenn ich im Euroland das schwedische Konto anwende. Dafür mußten nun leider ein paar Klamotten beim Schwesterherz eingelagert werden, sie paßten nicht mehr in die Tasche, und die Fluggesellschaften sind inzwischen alle knauserig. Es sollte nunmehr nicht nur Ryanair sein, die ein Tütchen zu viel als Handgepäckt ablehnt …

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Ich muß am Montag wieder eine Gruppe führen. Es bleibt mir nichts anderes übirg, als innig zu hoffen, daß Mutter Natur ein Erbarmen hat und Einsicht zeigt, man kann einen Renke bei dieser Hitze unter keinen Umständen auf die Touristen loslassen.

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Die Tage werden leider wieder merkbar kürzer.

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Frohen Sommer!